Das größte Buzzword der Technischen Kommunikation ist wahrscheinlich die altgediente “Zielgruppe”, denn nach all den Jahren gibt es hierzu noch immer wenig Konkretes. In diesem Beitrag: Warum Zielgruppen keine praktische Rolle bei der Erstellung von Technischer Dokumentation spielen
Wie ein Mantra wird es ständig wiederholt: Zielgruppen und deren Analyse sind wichtig. Neuerdings widmet sich sogar ein eigenes tekom-Büchlein namens “Zielgruppen für technische Kommunikation” (Hennig, Jörg / Tjarks-Sobhani, Marita (Hrsg.) (2013): Schriften zur Technischen Kommunikation. Bd. 17 : Zielgruppen für Technische Kommunikation. Lübeck : Schmidt-Röhmhild) dieser Thematik. Aber warum Zielgruppen wichtig sind, wie man sie ermitteln und beschreiben kann, und vor allem was das Technischen Redakteuren bringt, ist nach wie vor unklar. Das stellen auch die Herausgeber des tekom-Büchleins (Hennig/Tjarks-Sobhani 2013:7) fest:
“Der unermüdlich und immer wieder betonten Bedeutung der Zielgruppe steht ihre weitgehende Bedeutungslosigkeit bei der Erstellung von Technischer Dokumentation gegenüber.”
Das ist wohl als Kapitulationserklärung zu verstehen, dementsprechend münzen die Herausgeber das Thema des Büchleins kurzerhand zur Fragestellung um, warum Zielgruppen praktisch keine Rolle spielen. Tatsächlich jedoch wird diese Frage auf rund 160 Seiten nicht beantwortet, deshalb soll das hier nachgeholt werden.
Problem 1: Der Begriff “Zielgruppe” ist schwammig
Unter einer Zielgruppe versteht jeder etwas anderes. Die einen sehen sie als soziologische, halbwegs homogene gesellschaftliche Gruppe, die sich anhand ihres Alters, ihres Geschlechts oder gar ihres Sinus-Mileus (einem Konstrukt aus der Marktforschung) definiert und als Leser eines Textes fungieren. Doch der Anspruch an einen Text sollte vielmehr sein, unabhängig und nicht abhängig von Variablen wie Geschlecht und Alter zu “funktionieren”, also verstanden zu werden und seine kommunikative Funktion (“anleiten”, “warnen” etc.) zu erfüllen. Clemens Schwender (“Alter als Zielgruppenkriterium in der Technischen Kommunikation”. In: Hennig, Jörg / Tjarks-Sobhani, Marita (Hrsg.) (2013), 63–77) schreibt hierzu: “Instruktionen, die von jungen Menschen gut verstanden werden, sind auch für ältere geeignet” (Schwender 2013:70). Eine Klassifizierung rein nach soziologischen Kriterien scheint also wenig sinnvoll.
Andere stellen wiederum den Anwendertyp in den Vordergrund. Dies könnten etwa bei einer Enterprise-Software die verschiedenen Nutzergruppen wie Administratoren, Anwender, Entwickler etc. sein. Im konkreten Fall überlappen sich diese Nutzergruppen jedoch stark. Auch für Entwickler sind Adminstrationsthemen relevant und sie erwarten die gleiche Ansprache mit ähnlicher Inhaltsbreite und -tiefe. Zielgruppen mit Anwendertypen gleichzusetzen ist also auch nicht zielführend.
Die am sinnvollsten erscheinende Klassifizierung erfolgt anhand des Vorwissens, etwa Einsteiger, Fortgeschrittene und Experten. Doch das Vorwissen hängt weniger von soziologischen Faktoren oder dem Nutzungskontext ab, sondern variiiert häufig von Person zu Person. Auch formale Kriterien wie “Hochschulreife” oder “10-jährige Berufspraxis” können bei der pauschalen Abschätzung des Vorwissens in die Irre führen. Einer Zielgruppe wird das gleiche Wissensniveau unterstellt, was aber nicht immer zutrifft.
Problem 2: Zielgruppenanalysen sind aufwändig und oft klischeebeladen
Zunächst einmal sind Zielgruppenanalysen, wenn man sie “richtig” machen will und tatsächlich Umfragen mit potenziellen Nutzern durchführt, aufwändig, bieten aber dennoch selten ein vollständiges Bild. Da es nach wie vor wenig Methodik zum Identifizieren und Klassifizieren von Zielgruppen gibt, ist das Risiko hoch, dass das Ergebnis unvollständig, unkonkret und deshalb wenig aussagekräftig ist, um damit Texte verfassen zu können.
Mit der vielgerühmten Persona-Methode lassen sich Zielgruppen zu wenigen Beispielpersonen mit fiktivem biografischen Profil verdichten, um bereits beim Schreiben die Leserin oder den Leser vor Augen zu haben. Wenn es in unserer Gesellschaft darum geht, Klischees zu vermeiden und Vorurteile gegenüber Gruppen auszuräumen, so bewirkt die Persona-Methode das genaue Gegenteil. Man bildet das Klischee einer Person, die der Gruppengesamtheit nur teilweise gerecht werden kann. Der tatsächliche Nutzen (neben der Belustigung des Autors durch spaßige Porträtbilder und sperrige Fantasienamen) ist insbesondere bei technischen Texten fraglich. Auch hier wäre es sinnvoller, für alle Leser zu schreiben, nicht nur für ausgewählte, zudem fiktive Personen.
Die Zeit, die eine Zielgruppenanalyse oder die Persona-Kreation erfordert, lässt sich sinnvoller nutzen, in dem ein breiteres, tiefergehendes und besser verknüpftes Informationsangebot bereitgestellt und dessen Nutz- und Mehrwert sichergestellt wird.
Problem 3: Eine Zielgruppenanalyse hilft nicht beim Schreiben
Wenn sich ein Text an die kommunikativen Grundregeln hält, dann ist die Zielgruppe (fast) egal. Zu den Grundregeln zählen wohlbekannte Verständlichkeitsformeln wie direkte Ansprache, einfache Satzkonstruktionen mit je einer Information, Trennung von Anleitung und Beschreibung etc. Interessanter ist vielmehr die benötigte Wissenstiefe, die sich aber bereits aus dem Thema und den Anwendungsfällen ergibt – eine Anleitung für eine Kernkraftwerkssteuerung erfordert mehr Fachinformationen als für ein Küchenkleingerät.
Eine genaue Auflistung der Personengruppen, die den Text (vermutlich) lesen werden, hilft im Schreibprozess wenig, insbesondere falls die Zielgruppe “nahezu jeder” ist, etwa bei Konsumgütern. Fatal wäre es zudem, wenn eine Gruppe vergessen worden wäre oder später hinzukommt und das Informationsprodukt durch zu viel Zielgruppen-Scheuklappen an diesen Lesern vorbei entwickelt wurde.
Und noch ein Punkt: Selbst wenn Autoren die Zielgruppe ihrer Texte genau kennen, so heißt das nicht automatisch, dass sie für diese auch schreiben können. Dazu müssten sie mindestens die Kenntnisse der Zielgruppe besitzen und deren Gewohnheiten und deren Jargon kennen – etwa bei Medizintechnik mit der Zielgruppe Fachärzte. Weil Technische Redakteure aber oft genug keine Experten im Sachgebiet sind (was kaum verlangt werden kann), verleiten spezifische Zielgruppendefinitionen dazu, es den Lesern besonders recht machen zu wollen. Nichts ist schlimmer als ein Text, der den vermeintlichen Jargon der Leserschaft imitiert und beispielsweise mit Terminologie um sich wirft oder verschraubte Wissenschaftssprache nachahmt. So lässt sich schnell die Glaubwürdigkeit verspielen – vom Fremdschäm-Effekt beim kompetenten Leser einmal ganz abgesehen.
Problem 4: Menschen haben unterschiedliche Präferenzen
Oft werden auf trügerischer Basis einer Zielgruppenanalyse stilistische Entscheidungen für das Informationsprodukt getroffen, beispielsweise die Ansprache, Gestaltung und Formatierung sowie Annahmen zur erforderlichen Informationsbreite und -tiefe. Diese Entscheidungen sind oft argumentativ nicht zu rechtfertigen (“Zielgruppe XY will aber Bandwurmsätze und Fachwörter!”) und unterstellen den Lesern gewisse Vorlieben oder fehlende Kenntnisse. Doch jeder Mensch, auch innerhalb einer Zielgruppe, ist anders. Bevormundung durch Pauschalisierung hilft da nicht weiter, vielmehr sollte möglichst auf künstliche Einschränkungen verzichtet werden.
Manchmal ist es zudem nicht sinnvoll, das Informationsprodukt vollkommen der Zielgruppe anzupassen. Beispiel Studienarbeit, deren Zielgruppe eng umgrenzt ist: im Wesentlichen besteht diese aus einem einzelnen (selbstverständlich fiktiven) Dozenten, der bekannt ist für seine Vorliebe zu Buzzwords und der erwartet, dass sein Name erwähnt wird. Diese Zielperson beim Schreiben vor Augen zu haben, sollte aber keinen Einfluss auf die wissenschaftliche Arbeit haben. Wenn zugunsten einer besseren Benotung hohle Schlagwörter und bestimmte Namen einstreut werden, kann der Text nur verlieren.
Eine Zielgruppenanalyse kann keine endgültigen Angaben über Vorwissen und Präferenzen für alle Personen der Zielgruppe(n) geben. Selbst wenn eine Zielgruppenanalyse vorliegt und deren Ergebnisse im Informationsprodukt vollständig angewendet wurden, so bedeutet das nicht, dass die Präferenzen aller Personen dieser Zielgruppe berücksichtigt sind.
Und jetzt?
Die genannten Problemstellungen und Meinungsbilder führen zu folgenden Folgerungen, die nicht als fertige Lösungen, sondern eher als Denkanstöße zu sehen sind:
- Vom Jonglieren mit zerbrechlichen Zielgruppenkonstrukten hin zur pragmatischen Texterstellung. Unter Berücksichtigung kommunikativer Grundregeln werden genau so viele Informationen bereitgestellt, dass keine Gruppe (etwa eine bestimmte Altersgruppe oder ein bestimmtes Geschlecht) ausgeschlossen wird.
- Unterschiedliches Vorwissen kann (schon aus schreibpraktischen Erwägungen) nicht zu in unterschiedlich formulierten Texten führen, sondern erfordert eine skalierbare Wissensarchitektur, in der die Nutzer die Inhaltstiefe selbst bestimmen können. Dazu eignet sich Hypertext hervorragend, also die semantische Vernetzung von (digitalen) Inhalten, ein linear aufgebautes Papierdokument hingegen weniger.
- Nutzerpräferenzen, etwa bezüglich Format, Schriftart und -größe, lassen sich in digitalen Informationssystemen unabhängig vom Inhalt umsetzen. Wenn Opa große weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund besser lesen kann, dann sollte er das bekommen. Gleiches gilt für Vorlieben bezüglich der Ansprache oder des Genderings von Personengruppenbezeichnungen. Ohne Frage, dass dies in digitalen Plattformen bereits jetzt (und sogar für Eichhörnchen!) möglich ist.
- Für die Schreibpraxis ist es wichtiger, Anwendungsfälle zu kennen, wann und warum der Leser etwas tun möchte, als mühselig und doch unvollständig zu ermitteln, wer und was die Leser sind. Es empfiehlt sich also, mehr Zeit für die Recherche des Tätigkeitskontextes zu investieren, und welche Unterstützung der Nutzer währenddessen benötigt, und weniger Zeit mit dem Ausdenken von Lesergruppen-Schablonen zu verbringen.
- Grau ist alle Theorie. Selbst wenn es Methodiken zur Zielgruppenanalyse gibt und man sie 1:1 anwendet, ist das kein Garant, dass das Informationsprodukt “funktioniert”. Das einzige was hilft, ist ausprobieren – etwa mit einem Usability Test, und zwar mit dem tatsächlichen Nutzerkreis und möglichst nicht erst am Ende des Erstellungsprozesses.
- Weil ein Usability Test (ganz zu schweigen von einer empirischen Studie) für jedes einzelne Informationsprodukt in der Praxis nicht umsetzbar ist, hilft es, einen leicht nutzbaren Rückkanal ins Informationsprodukt einzubauen, mit dem Leserfragen, Korrekturen, Ergänzungen und Kommentare an den Redakteur zurückfließen. Und Vorsicht: das Kriterium “leicht nutzbar” ist hierbei entscheidend – was Registrierungszwang und komplizierte Freischaltprozeduren ausschließt. Mehr Feedback bedeutet schließlich mehr Wissen über die tatsächlichen Bedürfnisse der tatsächlichen Leserinnen und Leser.
Fazit
Wer sich die Ergebnisse anschaut, die in der Technischen Kommunikation in den letzten Jahren entstanden sind, kann wie Anne Lehrndörfer (Lehrndörfer, Anne (2013): “Zielgruppenspezifisches Texten in Technischer Dokumentation”. In: Hennig, Jörg / Tjarks-Sobhani, Marita (Hrsg.) (2013), 111–129) zu dem Schluss kommen: “Es gibt nur wenig wirklich Neues im zielgruppenspezifischen Texten” (Lehrndörfer 2013:217).
Die fehlende Relevanz im Erstellungsprozess deutet darauf hin, dass das Gerede von der “Zielgruppe” meist nur ein Buzzword, also eine leere Phrase ist, die es zu überwinden gilt. Die schreibtechnischen Herausforderungen und die technologischen Potenziale liegen woanders, um den verschiedenen Leserpräferenzen gerecht zu werden. Und manchmal hilft beim Schreiben – mehr als jede Zielgruppenanalyse – eine gesunde Portion Menschenverstand!
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