Braucht man wirklich einen Minigolfschläger, um in wenigen Tagen mit mehreren Menschen gemeinsam ein Buch zu schreiben? Die Antwort auf diese Frage und weitere Erkenntnisse, Erfahrungen und Eindrücke aus dem Book Sprint „Perspektiven der Agilität“ vom 15.–18. November 2018 im ZKM Karlsruhe gibt’s in diesem Beitrag.
Was benötigt man heutzutage, um gemeinsam ein Buch zu schreiben? Mit insgesamt fünf Autor*innen wollten wir das beim Book Sprint „Perspektiven der Agilität“ herausfinden und gleichzeitig Erfahrungen, Ideen und Impulse rund ums agile Arbeiten sammeln. Dr. Christian Hoffstadt und Anna Zinßer vom Karlsruher Coaching LAB luden von Donnerstag bis Sonntag ins Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) ein. Dort wurde mit der Ausstellung „Learning Takes Place“ ein grandioser, öffentlich zugänglicher Co-Working Space fürs gemeinsame Arbeiten, Lernen und Entwickeln geschaffen.
Klar, dass auch ich sofort begeistert von der Idee war! Über zehn Jahre ist es her, als ich gemeinsam mit drei Kommiliton*innen ein Sachbuch für einen klassischen Print-Verlag verfasste und darüber das Bloggen anfing. In der Zwischenzeit waren berufsbedingt ungezählte Handbücher hinzugekommen, Web-basierte Hilfeportale entstanden und viele weitere elektronische und gedruckte Ressourcen. Ich durfte sogar zu einem Hörbuch beitragen.
All diese Projekte haben gemeinsam, dass sie auf kollaborative Weise entstanden sind. Und dennoch möchte ich mir nicht anmaßen, mit Bestimmtheit sagen zu können: „Genau so geht das gemeinsame Bücherschreiben“. Ohnehin wäre ich bei diesem Book Sprint eines Besseren belehrt worden.
Book Sprint?
Ein Book Sprint ist eine Methode, um in 3–5 Tagen gemeinsam mit mehreren Autoren und unterstützt und angeleitet von einem sogenannten Facilitator ein Informationsprodukt von der Idee bis zum Endergebnis ähnlich einem Sprint in Scrum fertigzustellen. Auf der re:publica 2015 hatte ich erstmals von der Methode gehört – dort vorgestellt von Barbara Rühling von der gleichnamigen Organisation, die Book Sprints organisiert und durchführt.
Auch für unseren Book Sprint wurde die Grundlage von einer Barbara geschaffen, wenn auch von einer anderen: Barbara Kiolbassa ermöglichte als Wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZKM mit ihrem Einsatz erst die Existenz der gesamten Veranstaltung in dieser Form. Vielen Dank dafür!
Agile Vorgehensweisen aufs Bücherschreiben übertragen
Der Book Sprint hatte auf zweierlei Arten Berührungspunkte mit dem Begriff des „Agilen“. Einerseits handelt das Buchprojekt von der agilen Gegenwart und Zukunft. Andererseits bewegen wir uns im Kontext des agilen Bücherschreibens. Dort soll „agil“ bedeuten, dass wir anfangs wenig über das konkrete Ergebnis wissen. Erst durch das gemeinsame Tun lernt man von- und miteinander – „Learning Takes Place“. Zunächst noch wolkige Ideen festigen sich, formen sich in Leitgedanken, Kapiteln, Grafiken und Tabellen. Und am Ende ist etwas entstanden, das es vorher so noch nicht gab und auch noch nicht hätte geben können – fantastisch! Daraus folgt für mich die erste Erkenntnis:
Das Prinzip „ein Autor, ein Buch“ fühlt sich wie von Vorgestern an.
Damit ist nicht unbedingt die veralteten papierbasierten Arbeitsschritte gemeint, die meine Mitstreiter*innen und ich damals in Zusammenarbeit mit dem Verlag er(k)leben durften. Vielmehr ist die Grundannahme hinfällig, dass ein Buch zwangsläufig am abgeschiedenen Schreibtisch eines einzelnen Autors und Seite für Seite auf Basis eines lange im Voraus entstandenen Exposés entstehen muss.
Starre Abläufe und Denkweisen verflüssigen
Der Journalist Dirk von Gehlen hat das Konzept des „flüssigen“ Kulturguts Buch bereits 2013 in „Eine neue Version ist verfügbar“ entwickelt und beschrieben, wie sich durch die Digitalisierung die Kunst und Kultur für immer verändern werden. Eine der unangenehmen Wahrheiten daraus ist:
Gedruckte Bücher sind oft bereits zum Erscheinungstermin schon veraltet.
Machen wir uns nichts vor: Das Sachbuch über Software, das 2006–2008 mit meiner Beteiligung entstand, wurde noch im gleichen Jahr zu nicht unerheblichen Teilen von der Realität überholt. Das mag nicht für alle Arten von Büchern gelten, aber prinzipbedingt brauchen gedruckte Bücher einen immensen Vorlauf. In unserer digitalen Realität wirkt das inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Oder anders gesagt: Bei Werken, die auf herkömmliche Weise entstehen, arbeiten die Büchermacher gegen die Zeit. Heute können wir den Faktor „Zeit“ stattdessen für uns nutzen. Wir setzen uns mit einem Book Sprint einen festen Zeitrahmen (neudeutsch eine „Timebox“) und schauen, was am Ende entstehen durfte – ohne die Option der Weiterentwicklung aufzugeben. Denn im digitalen Zeitalter haben wir die Möglichkeit, die Grenzen des herkömmlichen Buchs zu sprengen.
Nach dem Book Sprint ist vor dem Book Sprint
Das in diesem Book Sprint entstandene Buch – oder besser dessen erstes Inkrement – muss nicht „fertig“ sein, weil es niemals einen Punkt erreichen muss, an dem es in den Druck gehen muss. Daher ist es nur konsequent, dass die Entwicklung auch nach dem ersten Book Sprint weiter geht. Das könnte ein zweiter Book Sprint sein, bei dem weitere Kapitel entstehen oder sich die Inhalte weiterentwickeln, ergänzen und aktualisieren – wie etwa beim großartigen Techniktagebuch auf Tumblr (Lesegefahr berichtete). Doch auch ganz real sprengt das Buch bereits vor dessen Erscheinen seine eigene Grenzen und wird online fortgeführt – beispielsweise mit der Umfrage von Co-Autorin Janna, die sich auch weiterhin über rege Beteiligung freut:
Der Open Space als un-möglicher Kreativ-Arbeitplatz
Eine weitere Erkenntnis für mich als einen Menschen, der normal lieber im stillen Kämmerlein konzentriert vor sich hinarbeitet, hat mich vielleicht am meisten überrascht: Auch in lauten und unruhigen Umgebungen wie im Lichthof des ZKMs kann sich Neues entwickeln – vielleicht entsteht sogar gerade dort besonders Innovatives und bislang Unmögliches. Denn alles beeinflusst einander: Die Umgebung, die teils enorme Geräuschkulisse der Medienkunst-Installationen und Veranstaltungen oder vorbeilaufende Museumsbesucher.
Sogar die Aufsichtspersonen des ZKM tragen zum Projekt bei. Unvergesslich bleiben wird die namenlose Dame voller Sorge um einen Minigolfschläger, der Teil der Ausstellung sei und nicht doch möglicherweise von uns in Mitleidenschaft gezogen worden sein könnte …? Die eigene Konzentration mag unter all dieser teils absurden Reizüberflutung, der ständigen Unterbrechung und dem notwendigen (!) Herumalbern mitunter leiden, doch das Ergebnis spricht für sich, wie ich finde:
Was braucht’s nun zum gemeinsamen Bücherschreiben?
Die kurze Antwort: Nicht viel, aber davon jede Menge. 😉 Die lange Antwort: Zunächst einmal brauchen wir die „richtigen“ Menschen mit der richtigen Einstellung für derartige Vorhaben. Getreu dem Open-Space-Motto „Diejenigen, die da sind, sind genau die Richtigen“ waren das bei diesem Book Sprint bis zu fünf Personen: Anna, Janna, Christian, Nick und (leider wegen anderweitiger Verpflichtungen viel zu selten) meine Wenigkeit.
Das ZKM bot uns einen physischen Treffpunkt und eine Arbeitsfläche mit vielen Annehmlichkeiten – etwa einem Kühlschrank voller (Frei-)Getränke. Der Book Sprint selbst machte eine permanente Anwesenheit aber keineswegs erforderlich. Denn als kollaboratives Schreibwerkzeug nutzten wir kurzerhand Google Drive (Docs) – pro Kapitel ein Ideenpate bzw. eine Ideenpatin und mindestens ein Dokument. Und nicht zuletzt darf bei aller Offenheit für Ideen, Impulse und Daseinsformen ein gemeinsames Ziel nicht fehlen: In unserem Fall der Wille, ein großartiges „Ding“ über Agilität zu schaffen, das manche vielleicht als Buch bezeichnen.
Unsere unterschiedlichen Hintergründe, Motivationen, Ideen und Schwerpunkte lassen sich tatsächlich wunderbar zusammenfügen – wenn wir das denn zulassen und dabei das vermeintlich entstehende Chaos nicht ablehnen, sondern umarmen und es quasi nebenbei in ein großes Ganzes transformieren lassen. Das ist harte Arbeit! Bloß einen Minigolfschläger braucht man dazu nun wirklich nicht …